Der Garten der Kindheit

Jedes Kind wählt aus und nimmt sich aus der Fülle des Lebens den Teil, den es für sein eigenes Leben braucht: Einen Garten voller wunderbarer Pflanzen, voll drängender Vitalität, voll freudiger Erwartung  - genau richtig, um seinem Lebenswillen Ausdruck zu verleihen. Ein Garten der Wunder, ein Zaubergarten, der sich in den Jahren der Kindheit auf wundersame Weise entfaltet.

Diesen Garten gilt es zu hüten und zu pflegen, ihm ein guter Gärtner*in zu sein, bis der heranwachsende Mensch für die Gartenpflege, für Gestaltung und Ausgestaltung, selbst Verantwortung übernimmt.

Mensch und Garten

Nun, wir alle wissen, was Menschen aus Gärten machen können.
Manch einem, der einen Garten übernommen hat, interessiert seine ursprüngliche Gestalt wenig; er hat seine eigenen Ideen, pflügt, säht Rasen, baut eine Mauer herum und zieht heraus, was nicht an einem von ihm zuvor bestimmten Platz wächst - wie dem kleinen eingegrenzten Beet am Eingang seines Hauses zur eigenen Zierde.

Ein anderer Mensch hat kein Interesse an der Gartenarbeit; er lässt alles wachsen, wie es gerade wächst, lässt Strauch und Kraut in die Höhe schießen, die ausufernden Pflanzen die zarten Triebe keimenden Lebens überwuchern, lässt den Rasen verfilzen … und vielleicht nimmt er dann, wenn ihm alles zu viel wird, die Sense und macht einen radikalen Rückschnitt, nur um zu erleben, wie schnell der Garten wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehrt, wenn er auch weiterhin keine Liebe zur Gartenpflege entwickelt.

Ist ein Garten erst einmal verwildert, erscheint es beinahe unmöglich, ihn wieder so herzurichten, wie es seinen ursprünglichen Möglichkeiten und seiner ihm einmaligen Schönheit entsprechen könnte. Wer Gräser, Sträucher und Gehölze durch Unachtsamkeit oder mangelndes Interesse ‘ins Kraut schießen‘ lässt und dann glaubt, nur noch durch den Schwung der Sense die wuchernde Natur bewältigen zu können, wird erleben, wie schnell, bei fehlender Konsequenz und liebevoller Zuwendung, der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt ist.

Kunst der Gartenpflege

Aber gibt es nicht noch eine andere Form des Gärtnerns? Diejenige, bei der Gärtner*innen den Garten, für den sie Verantwortung übernommen haben, liebend und wohlwollend betrachten, wahrnehmen, was vorhanden ist, sehen, was hervortreten möchte. Sie schauen auf seine natürlichen Möglichkeiten, seine veranlagte Schönheit, bevor sie selbst Hand anlegen – und wenn sie es tun, dann tun sie es mit Liebe. Sie korrigieren vorsichtig wilde Triebe, ohne das naturgegebene Wachstum und die ursprüngliche Gestalt gänzlich zu zerstören. Sie säen Samen, und schauen mit Freude und Vorfreude auf ihre Entwicklung. 

Und ist nicht jeder neugeborene Mensch, das kleine Kind, selbst wie ein Garten, angetreten mit dem, was es für sein Leben braucht, um Lebenspläne und Wachstumsaufgaben zu erfüllen. In ihm, von seinem kleinen Körper umgrenzt, schlummern seine Veranlagungen, sein Entwicklungspotenzial - umhüllt vom grenzenlosen Raum der Seele. Das ist die Saat, mit der es antritt.

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Foto: unsplash.com

Die heilige Pflicht

Der Reformpädagoge Friedrich Fröbel prägte in seiner „Pädagogik vom Kinde her“ für seine Einrichtungen das Wort „Kindergarten“ und wollte seine durch Wortwahl zum Ausdruck zu bringen, dass er die von ihm betreuten Kinder wie Pflanzen im Garten umsorgt sehen wollte.
Sind wir in diesem Sinne als Eltern und Erzieher, um im Bild zu bleiben, nicht alle wie Gärtnerinnen und Gärtner?

Es ist unsere Aufgabe, unsere ‚heilige Pflicht‘, immer wieder neu zu erlauschen, was ein Kind in sich trägt, welche Charaktereigenschaften sich zeigen, welcher Lebensausdruck sich formen, welches Potenzial sich entwickeln möchte, bevor wir beginnen, an den jungen Pflanzen zu ziehen und durch verfrühte Erziehungsmaßnahmen versuchen, das Kind nach unseren Vorstellungen zu formen.

Es besteht dabei die Gefahr, dass sich theoretisch erworbene Erziehungsgrundsätze, Ansprüche und Erwartungen wie hemmend über ein Kind stülpen und die feinen, jungen und zarten Triebe ersticken, die darauf warten, zunächst einmal wahrgenommen zu werden.
Wir sollten sie hüten und pflegen, auch wenn sie so ganz anders sind als die uns vertrauten Pflanzen im eigenen Garten.

Mut zur Frage

Welche Gärtner*innen sind wir? Sind wir diejenigen, die feste Vorstellungen haben, die das Kind in eine Richtung drängen, es nach unseren Plänen lenken, es kontrollieren möchten? Wollen wir ihr Gärtlein nach unseren eigenen Vorstellungen bewirtschaften?
Dann wissen wir sicher längst, dass das nicht immer einfach ist: es braucht viel Mühe, viel Konsequenz und manchmal auch Druck. Erleben wir dann Gegendruck, muss unser Bemühen und unsere eigene Anstrengung größer werden, damit wir unsere Vorstellungen nicht aufgeben müssen oder unser Wille zur Durchsetzung untergraben wird.
Nur wenige Kinder haben den Mut und die Kraft dazu, sich dem Elternwillen zugunsten des eigenen Wollens zu widersetzen. Und es gelingt ihnen meistens nur, wenn sich das Erfühlen ihrer eigenen leuchtenden Lebensspur nicht schon frühzeitig verdunkelt hat.

Oder sind wir diejenigen, denen schnell alles über den Kopf wächst? Fühlen wir uns leicht überfordert, sind schnell ungeduldig, brauchen viel Raum und Zeit für uns selbst? Haben wir vielleicht das Familienleben niemals ganz akzeptiert? Fällt es uns schwer, den Kindern darin genügend Raum und Teilnahme zu ermöglichen? Werden gleichgültig und vernachlässigen unsere Aufgabe als Eltern?

Ohne Frage ist eine gewisse Form von Gleichgültigkeit für unsere Kinder manchmal besser als zu starke und einengende Vorgaben, oft verbunden mit Kontrolle. Ufert sie aber aus zu einem grundsätzlichen Laissez-Faire aus, oder wechselt unser Erziehungsstil, je nach persönlicher Befindlichkeit, von einem in den anderen, schießt das Verhalten des Kindes „schnell ins Kraut“.

Wie überall im Leben: es gilt auch hier, die Mitte zu finden.

Kraftvoller Wille

Wir sollten den Willen eines Kindes, wenn immer es möglich ist, nicht ausbremsen, besonders niemals versuchen, ihn nicht brechen. Der Wille will sich ausdrücken, will sich kraftvoll entwickeln - muss sich kraftvoll entwickeln, wenn wir wollen, dass der kindliche Selbstausdrucks- und Gestaltungswille stärker ist und lustvoller bleibt als die Fremdformierung seiner Willenskräfte durch Einflussnahme und Manipulationen anderer, durch Medienkonsum wie Film, die Nutzung von Social-Media-Plattformen oder Computerspiele, die gerade zur Willenslähmung führen.

Die Freude am Handeln, der Wille zur Kreativität, zum Ausdruck der eigenen Ideen soll der Fremdeinwirkung trotzen, damit wir unsere Kinder eines Tages zielstrebig, authentisch, unabhängig und frei in ein Leben entlassen können, das sie nach ihrem eigenen Lebensplan und Lebenswünschen kraftvoll ergreifen.

Lustvolles selbstbestimmtes Tun

Für lustvolles selbstbestimmtes Handeln sollten wir unseren Kindern viel Material zur Verfügung stellen: Naturmaterialien, Werkzeuge, Stoffe, Stifte, Karton und Papier in unterschiedlichen Größen, Farben, Ton, Holz und vieles mehr. Und wir sollen ihm den nötigen Raum geben, wo es sich ausleben und entfalten kann.
Haben wir einen Garten, mag das Kind vielleicht selbst gärtnern. Es kann sich bewegen, auf Bäume klettern und durch die Anregungen der Natur und all das, was sich im Garten finden lässt, eigene Ideen entfalten. Sportliches freudiges Bewegen kann auch bei kleineren Gärten angeregt werden – je nach Alter - durch Sport- und Spielgeräte, eine Matchküche oder ein Trampolin, auf dem sich auch einmal eine Höhle bauen lässt oder Kinder anregt, auf ihm ganz spontan unter dem Sternenhimmel zu übernachten.

Und wenn die Ideen und Produkte kindlicher Fantasie nicht so perfekt sind und unseren eigenen Vorstellungen oder unserem Perfektionsanspruch nicht entsprechen, sollten wir sie nicht ungefragt korrigieren oder gar kritisieren - in der Welt des Kindes sind sie perfekt und das Kind möchte mit seinen Werken gesehen werden, durch die sich sein Wollen und sein Gestaltungswille ausdrücken. Es hat etwas aus sich heraus gesetzt, um sich selbst zu leben und zu erleben.

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Während wir bei einer gesunden Entwicklung dem unhaltbaren Gestaltungswillen und der Kreativität unserer Kinder freudig zuschauen dürfen, ohne eingreifen zu müssen, sollten wir allerdings Acht geben, dass das Wollen des Kindes sich beim Heranreifen nicht seiner Wunschnatur unterordnet, die nach dauernder Befriedigung durch äußere Ziele strebt.

Autonomie und Spielregeln

In den ersten Lebensjahren, wenn der eigene Körper ergriffen werden will, ist das noch kein Thema; das Kind ist wie verwoben mit allem, was ist. Es bedarf der Nahrung, eines guten Vorbildes und der Liebe der Eltern, um seine ersten Wachstums- und Lernschritte zu machen.

Zwischen zwei und vier Jahren folgt dann eine mehr oder weniger ausgeprägte, häufig so genannte,  ‚Trotzphase‘, in der das Kind der Dualität von Ich und Welt zunehmend gewahr wird. Von der Entwicklungspsychologie wird sie heutzutage treffender als ‚Autonomiephase‘ bezeichnet. Denn das ist es, was das Kind in diesem Lebensalter lernt und austestet: Es erprobt die Möglichkeiten und Grenzen seines Eigenwillens: Wann kann es ihn durchsetzen und wann stößt es an Grenzen?
Es erfährt seinen Handlungsspielraum - erfährt, wie weit es seine eigenen Grenzen ausdehnen darf, ohne die der anderen zu überschreiten. Jetzt benötigt es mehr denn je eine liebevolle Führung, klare Regeln ohne erzieherische Starre. Es braucht eindeutige Orientierungshilfen, damit es spätestens im Alter von 4 bis 5 Jahren die sozialen Spielregeln erlernt hat. Sie sollten ihm jetzt vertraut sein: Es weiß, wie weit es gehen darf und wann es sich zurücknehmen muss.

Erzieherisches Geschick

Diese Phase verlangt ein großes erzieherisches Geschick und viel Einfühlungsvermögen. Berücksichtigt der Erwachsene ein paar hilfreiche Regeln, wird er gemeinsam mit dem Kind sicher durch diesen Lebensabschnitt navigieren. Besonders sollte er nichts persönlich nehmen, nicht auf ein Kind einreden, es weder beschimpfen noch bestrafen, sondern stattdessen liebevolle Konsequenz zeigen. Oft gelingt es in diesen jungen Jahren noch, ein Kind ablenken oder ihm Alternativen anzubieten, wenn es nötig ist. 
Wann immer möglich, sollte man den Kindern erlauben sich auszuprobieren - aber Grenzen setzen, wenn dadurch die Freiheit und die Bedürfnisse anderer verletzt werden.

Soziale Spielregeln

In diesen Jahren werden die Weichen gelegt für ein angemessenes Sozialverhalten. Das Kind lernt zu teilen, abzugeben und zuzuhören. Es weiß, dass seine Fähigkeiten noch begrenzt sind, es manchmal abwarten muss und auch, wie es mit Frust umgehen kann.

Versäumen wir deshalb nicht, einer überwuchernden fordernden Kindesnatur liebevoll ihre Grenzen zu zeigen. Denn nur zu leicht bilden sich im kindlichen Garten Triebe einseitig ‚egoistischen‘ Verhaltens, die schnell  ausufern können, wenn wir irrtümlicherweise zu lange glauben, es sei der kindliche Wille, den wir schützen müssten. Manchmal übersehen wir dabei, dass ein Kind längst seinen eigenen Garten verlassen hat, um im Garten anderer seine überbordenden Triebe auszuleben.

Einem Kind, das daran gewöhnt ist, immer wenn es etwas sieht, es sogleich zu bekommen, wird es schwerfallen zu warten. Seine Wunschnatur heftet sich an das Objekt der Begierde und es verlangt nach dem, was es sieht. Und wenn seine Forderungen nicht sofort erfüllt werden, wird es mit allen Möglichkeiten versuchen, seinen Willen durchzusetzen. Daran ist nichts Verwerfliches: das Kind ist weder ‚böse‘ noch ‚unsozial‘, es füllt und nutzt lediglich den Spielraum, den wir ihm zuvor gegeben haben.

Der Mut zur Lücke

Es wird nicht immer leicht sein, an der richtigen Stelle konsequent zu sein.
Natürlich können wir diese Lücke zwischen Habenwollen und Wunscherfüllung jedes Mal schnell schließen, um damit ‚Stress‘ aus dem Wege zu gehen. Oder aber wir füllen diesen Zwischenraum mit Verständnis, mit liebevoller Zuwendung, oder, wenn nötig, auch mit Konsequenz, wenn ein Wunsch zum Wohle des Kindes und zum Wohle anderer einmal nicht sofort zu erfüllen ist.
Lernt ein Kind abzuwarten, wenn gerade ein anderer spricht, auf ein Spielzeug zu warten, das gerade von einem anderen Kind benutzt wird oder zu warten, bis ihm ein spontaner Wunsch nach einer Süßigkeit erfüllt wird, erwirbt es charakterbildende Fähigkeiten, auf die oft wenig geschaut wird.

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Wenn wir uns dessen bewusst sind, dass es manchmal gerade dieser Raum des Wartens, diese Lücke ist, in der ein Kind Gemütsqualitäten entwickeln kann, wird es uns leichter fallen, es zu begrenzen, wenn es nötig ist:
Vorfreude in der Erwartung auf das, was es erhalten wird, Dankbarkeit, wenn es seinen Wunsch erfüllt bekommt, Aufmerksamkeit, wenn es lernt, andere aussprechen zu lassen, Toleranz und Akzeptanz dem Wunsch und Bedürfnis anderer gegenüber, auch Frustrationstoleranz, … all das sind seelische Qualitäten, die sich entwickeln können, wenn ein Kind gelernt hat zu warten.

Erziehungskunst

Bei allem, was wir unsere Kindern lehren möchten, sollten wir immer auch auf uns selbst schauen. Durch unser eigenes Vorbild erleben sie, was uns wirklich wichtig ist. Was wir von den Kindern fordern, sollten wir zunächst bei uns selbst prüfen.

Wenn soziale Verhaltensweisen in rechter Weise und ohne Zwang erlernt wurden,  schränkt es unsere Kinder keinesfalls ein, im Gegenteil. Sie bleiben entspannt, statt unter großer Anstrengung ihr Bedürfnis nach sofortiger Wunscherfüllung oder spontaner Aufmerksamkeit auch noch nach der Zeit der Autonomiephase trotzend einzufordern zu müssen.

Rudolf Steiner betonte immer wieder, wie sehr Erziehung ein künstlerischer Prozess ist. Er erfordert ein gutes Gespür und einen feinen Sinn für die Gratwanderung, auf der wir unsere Kinder auf dem Weg zwischen Freilassen und sanfter Lenkung zu autonomen Menschen mit selbstbestimmtem Denken, Fühlen und Handeln begleiten dürfen.
Mit unserer Hilfe erwerben sie die Werkzeuge, um ihren eigenen Garten zu lieben und liebend zu gestalten: in ihr eigenes blühendes Paradies.


Text von Gabriele Waldow
Sie ist Autorin des Buches „Elternsache ist Bewusstseinssache“, das über unserer Verlag zu beziehen ist.
Haben Sie eine weitergehende Frage, können Sie sich gerne auch persönlich wenden: gabrielewaldow.de

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