Gehorsam oder was sonst?
Gabriele Waldow
Setzt Zivilcourage nicht häufig Ungehorsam voraus? Ungehorsam denjenigen gegenüber, die Kraft ihrer Macht oder Position Menschenwürde und Gerechtigkeit verletzen? Ungehorsam ist immer auch der Mut zur inneren und äußeren Unabhängigkeit und Freiheit. Werden die sogenannten ‚ungehorsamen’ Kinder, die sich der Übermacht Erwachsener nicht beugen wollen, mit großer Strenge gebändigt, für ihr Verhalten bestraft oder gar zu etwas gezwungen, bis sie eines Tages endlich ‚gezähmt’ den ‚Ungehorsam’ aufgeben – weil sie immer wieder erfahren mussten, dass er nichts als Ärger und Leid bringt –, geben sie gleichzeitig einen Teil ihrer inneren Unabhängigkeit und Eigenständigkeit auf und tauschen ihr mitgebrachtes Selbstverständnis als freie Wesen gegen Anpassung und Unterordnung.
Berücksichtigt Erziehung hingegen von Anfang an ein paar elementare Gesetzmäßigkeiten ist ein Umgang mit Kindern ohne großen Druck, Strenge und Strafe möglich. Dazu gehört auch, dass ein fundamentales Bedürfnis, das wir als Eltern und Erwachsene haben, befriedigt wird: Wir möchten, dass sich unsere Kinder in eine Struktur einfügen, die sie durch uns vorfinden. Je mehr Gestaltung und Rhythmus wir unserem Alltagsleben geben, umso selbstverständlicher ordnen sich Kinder in ein vertrautes Muster ein. Es gibt ihnen Halt und Zuverlässigkeit. Das setzt allerdings voraus, dass Eltern sich in grundsätzlichen Fragen, die den familiären Lebensalltag betreffen, weitgehend einig sind. Dazu gehören klare Absprachen, wie Zeitabsprachen, geregelte Essenszeiten, eine gemeinsame Freizeitplanung, ebenso wie Einigkeit über grundsätzliche Erziehungsfragen – und mehr als alles andere eine gepflegte Gesprächskultur sowie die Fähigkeit der Eltern, Konflikte zeitnah zu klären und loszulassen. Wo jedoch eine Struktur sowie die Fähigkeit zu Klärung und Absprache fehlt, steigt die Nervosität der Eltern auf der einen und der Unruhe-Level der Kinder auf der anderen Seite, was den Ruf nach Gehorsamkeit laut und autoritäres Verhalten oft zu einem willkürlichen Akt werden lässt.
Eltern, die in ihrem Lebensalltag eine Form gefunden haben, in der sie sich selbst wohlfühlen, fällt es sehr viel leichter, auch ihre Kinder in diese Form einzubinden, als Eltern, deren Alltag mehr oder weniger chaotisch und planlos verläuft. Da werden auch die Kinder chaotisch und planlos, wenn sie nichts anderes kennenlernen können. Das führt bei vielen Eltern zu Enttäuschung und Frustration. Sie sind desillusioniert, wenn der Wunsch nach einer heilen Familie unerfüllt bleibt, und spüren die Leere, die ein nicht gelebtes Ideal in ihnen zurücklässt, meistens ohne dass sie sich der wirklichen Ursache bewusst sind.
Ein guter Familienzusammenhang zeichnet sich aus durch gemeinsame wiederkehrende Erlebnisse, durch das Erleben von Vertrauen, Zuverlässigkeit und Dauer. Neben den alltäglichen Ereignissen, Aufgaben und Belastungen im Leben des Einzelnen, den individuellen Rhythmen der Familienmitglieder, gibt es Gemeinsames, das alle verbindet und worauf man sich verlassen möchte. Dieses Gemeinsame muss gehegt und gepflegt werden wie ein schöner Garten, sodass er mehr und mehr erblühen und Früchte tragen kann. Wird diese Arbeit versäumt, beginnt das Unkraut zu sprießen. Und ein verwilderter Garten erfordert sehr viel mehr Pflege und Einsatz als ein von Anfang an gut gepflegter Garten. Das trifft auf die Partnerschaft ebenso zu wie auf das Verhalten der Kinder. Nur leider ist es häufig so, dass erst dann, wenn es beinahe zu spät ist, Fragen zur Gartenpflege auftauchen.
Für denjenigen, der im Chaos der eigenen Lebensführung unterzugehen droht, werden auch die Kinder zur Belastung. Wer mit eigenen Problemen randvoll beschäftigt ist, überlässt seine Kinder häufig sich selbst oder schiebt sie ab – und wenn sie durch eine willkürliche Laissez-faire-Haltung zu entgleiten drohen, fordert man Gehorsam, und ‚wenn es sein muss’ mit Zwang und verbaler Gewalt. Wenn alles zu entgleiten beginnt, da sollen doch wenigstens die Kinder funktionieren!
Doch dann ist es zu spät – und mit jedem Druck, mit jedem Zwang zu Gehorsam, der ausgeübt wird, schließt sich die Falle mehr, die man sich selbst gebaut hat. Ein Kind, das sich äußerlich beugt, zieht sich innerlich zurück, und viele Eltern verlieren dadurch schon früh den liebevollen Kontakt zu ihrem eigenen Kind.
Bei einem guten Erziehungs-Stil sollte die Betonung weniger auf Erziehung als auf Stil liegen. Während Erziehung sich in erster Linie auf das Kind bezieht, bezieht sich der Stil auf den Erziehenden
selbst und auf sein eigenes Handeln. Weder ein ‚Laissez-faire’ noch ein autoritärer Erziehungs-Stil werden dem Bedürfnis eines Kindes gerecht. Kinder wollen sich orientieren und sanft geführt werden. Kleine Kinder lernen durch Nachahmung, durch die Installation guter Gewohnheiten, durch Liebe und Vertrauen, durch klare Anweisungen, durch zugewandte Anleitung und Begleitung.
In einer Zeit, in der viel Wissen über Psychologie, Entwicklungspsychologie und Lernpsychologie zur Verfügung steht, sollten Erwartungen, wie blinder Gehorsam, zur Liste antiquierter Erziehungsmaßnahmen hinzugefügt werden. Eine solche Erwartung erübrigt sich ohnehin, wenn an seine Stelle Begleitung, Anleitung und Vorbild treten. Diese Worte beziehen sich in erster Linie auf die Eltern und ihren Erziehungs-Stil und entlasten die Kinder.
Dieser Artikel entstammt dem empfehlenswerten Buch „Elternsache ist Bewusstseinssache“, einem „Erziehungsratgeber zur Nichterziehung“ von Gabriele Waldow⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀⠀
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Bild: Cornelia Haendler, Fotos: Public Domain