Kinder und digitale Medien

Kindgerechte Medienerziehung

Eine Kernfähigkeit für uns als Mensch ist die Selbstregulation. Diese Kräfte sind aus hirnphysiologischer Sicht erst ab dem 21 . Lebensjahr voll ausgereift. Würde man daraus folgern, dass die Kinder erst mit 21 medienmündig sind, würden wir somit als Erziehungspartner in der heutigen Zeit unseren Erziehungsauftrag nicht erfüllen. Miriam Thye geht es deshalb in erster Linie um eine kindgerechte Medienerziehung. „Viele Eltern machen sich Sorgen um den Medienkonsum ihrer Kinder. Guckt mein Kind zu viel? Was ist erlaubt, was ist schädlich? All diese Fragen beschäftigen die Eltern, die zu mir kommen.“ Für die Psychologin sei es wichtig zu verstehen, dass Medien nicht eingesetzt werden sollten, um einen Erziehungsauftrag zu übernehmen. Diese können bestenfalls die Entwicklung erweitern. Die Verantwortung für das Erziehen und die Entwicklungsbegleitung bleibe bei den Eltern. Das bedeute vor allem im ersten Jahrsiebt des Kindes, dass Inhalte, Umfang und Form von den Eltern vorgegeben werden. Sie entscheiden über die Bildschirmzeiten. „Zum Beispiel gibt es einen festen Tag in der Woche, an dem etwas vorher Ausgewähltes mit festbestimmten Umfang geguckt wird.“ Am wichtigsten sei es, dass Eltern Vorbilder sind. Kleine Kinder lernen ganz viel dadurch, dass sie die Eltern beobachten und sie später daraus ihr Leben gestalten. Wenn die Eltern oft abgelenkt und mit nur halber Aufmerksamkeit dabei sind, dann kann das für die Kinder frustrierend sein. „Es ist essenziell für eine Bindung, dass das Elternteil reaktiv ist, also wirklichen Augenkontakt aufbaut und empathisch auf die Regung des Kindes reagiert. Wenn man jedoch selber abgelenkt ist und die ganze Zeit auf das Smartphone blickt, ist man nicht im Kontakt mit dem Kind“, betont Miriam Thye . Es geht also um die eigene innere Haltung, den eigenen Umgang mit den Medien. Man solle sich daher gut überlegen, wie man ein Medienvorbild für sein Kind sein könnte. Dies präge essenziell die Art und Weise, wie das Kind selbst Umgang mit Medien pflegen wird. Thye rät Familien zu guten Gewohnheiten im Alltag, um gemeinsam Freude zu erleben. Dies würden besonders kleinere Kinder sehr gut annehmen, da ihr Spieltrieb noch sehr stark vorhanden sei. Es biete sich zu jeder Jahreszeit an, zusammen in den Wald zu gehen und zum Beispiel eine Hütte zu bauen oder im Garten gemeinsame Arbeiten durchzuführen. Bei diesen kleinen Aktivitäten kann große Freude entstehen. „Das hat nichts damit zu tun, dass Sie Ihrem Kind mit diesen Aktivitäten etwas verbieten und Ihr Kind Ihnen dann eventuell Stress macht. Prüfen Sie für sich und Ihren Familienalltag, wo Sie Ressourcen für gemeinsame Aktivitäten freihaben und wie sich diese im Alltag umsetzen lassen. Sie können sich auch mit anderen Eltern zusammentun und überlegen, wie Sie sich gegenseitig helfen können.“ Ein gemeinsamer Familien-Filmabend kann natürlich auch auf dem Programm stehen: „Wenn es begleitet ist, wenn es unterstützt, wenn gemeinsam reflektiert wird, dann kann das sogar ein nettes Familienhappening sein“, sagt Miriam Thye.

Kennt ihr das? Dein Kind schaut einen Film und ist still. Doch diese Ruhe ist schnell dahin . Spätestens, wenn die festgesetzte TV-Zeit vorüber ist und der Fernseher - nicht selten - unter großem Protest ausgeschaltet wird, kommt es leider oft zum Streit zwischen Eltern und Kind . Und weil das Gesehene bei den jungen Zuschauern für große Unruhe und Aufregung sorgt, ist an ein friedliches Einschlafen am Abend nicht zu denken . Purer Stress also für alle Beteiligten!

Die Psychologin Miriam Thye beobachtet immer wieder, dass Eltern ihren Kindern nicht die Freude an einem Film oder an einer Spiele-App nehmen möchten . Hinzu komme, dass alle Familienmitglieder diese Medienzeit als eine „Auszeit“ und Ruhe vom Alltagsstress erleben, die manchmal dringend benötigt wird, um den Herausforderungen im Familienleben gerecht zu werden . Doch ist diese „Entspannung“, die man bei den Kindern vor den Bildschirmen sieht, tatsächlich echt? 

„Die äußerliche Entspannung entsteht, weil sich der Muskeltonus reduziert und der Körper ein wenig weicher wird . Manche Kinder sind so „entspannt“, dass sie gar nicht mehr ansprechbar sind . Der Körper kommt dann in eine Art Schwebezustand, in dem die Kinder ihre Grundbedürfnisse wie Durst, Hunger oder Harndrang nur noch eingeschränkt wahrnehmen, weil ihre Sinne wie „abgezogen“ sind, vollkommen auf den Bildschirm konzentriert“, erläutert Miriam Thye. Filme mit schneller Bildabfolge, intensivem Handlungsgeschehen und aufregender Stimmung, können kleine Kinder nur schwer erfassen und verarbeiten, insbesondere kurz vor dem Einschlafen . Viele Kinder haben vor dem Schlafengehen keine Möglichkeit mehr, mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen, über das Gesehene zu sprechen . Sie nehmen ihre Eindrücke mit ins Bett und machen sich alleine ihre Gedanken darüber. „Sieht das Kind einen Film, in dem etwas Verstörendes vorkommt, das in der realen Welt so gar nicht passiert, kann dies Ängste auslösen . Kleine Kinder können nicht immer zwischen Fiktion und realer Welt unterscheiden . Für sie ist alles eine Welt“, führt die Expertin weiter aus. Ein Hauptproblem läge hier in der Entwicklung der Kognition, des Denkens, des Denkvermögens bei kleinen Kindern . Zudem beobachte sie in ihren Beratungsgesprächen, dass Kinder unglaubliche Schwierigkeiten haben, sich langfristig mit einer Sache zu beschäftigen: Konzentration, Ausdauer, Aufmerksamkeit sind eingeschränkt, wenn die tägliche Bildschirmzeit bei 4-5 Stunden liegt.


Lernapps

Mit Lernapps können Kinder doch viel lernen, oder? Zum Beispiel gibt es Apps für Kleinkinder, die in einer anderen Sprache zählen oder Formen und Farben benennen. Spult das Kind danach eine Zahlenfolge ab, bedeutet das nach Auffassung von Miriam Thye nicht, dass es ein Empfinden dafür hat, was eigentlich die Mengen in den Sprachen Deutsch und Englisch bedeuten. „Die Kinder spulen dann einfach nur eine Folge von Geräuschen, von Klängen ab, die sie in der App gesehen haben . Ein Verständnis für eine Zahlenmenge oder eine Fremdsprache entsteht dadurch nicht . Das Erfassen, Anfassen, Erkennen und Erfühlen in der direkten Wahrnehmung ist für die Entwicklung viel wichtiger“, so die 34-Jährige.

Smartphones ab dem Schulalter?

Welches Alter empfehlenswert ist, um ein Smartphone zu bekommen, würde Thye nicht pauschal sagen. Es hängt von der individuellen Lebenssituation, Reife und der Lebensrealität der Peers ab. Aus diversen Studien zum Umgang mit Medien in den letzten Jahren ist zu erkennen, dass Jugendliche in erster Linie soziale Kontakte über Smartphones suchen. „Spannend ist hier, je älter die Kinder werden, je höher ist das Bedürfnis Nachrichten zu bekommen und zu schreiben. Es ist offensichtlich nur soziale Realität, dass die Kinder ihre Verbindung über die Smartphones suchen“, so Miriam Thye. Die Realität der jetzigen Generation ist, dass es keine Welt ohne Smartphones gibt. Ein komplettes Verbot würde erstmal zu Frustration und Traurigkeit beim Kind führen. „Kinder haben ein großes Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit. Sie möchte am liebsten so sein, wie die meisten anderen auch in ihrem Alter.“ Wenn ein Smartphone in das Leben des Kindes Einzug hält, ist es wichtig, gute und gemeinsame Regeln abzusprechen. Das heißt, wie lange darf ich das Smartphone am Tag benutzen? Zu welchen Gelegenheiten darf ich es verwenden? Darf ich es mit ins Bett nehmen oder nicht? Dies sollten die Eltern mit dem Kind abstimmen und dem Kind helfen, sich darin zu regulieren.

Bildschirmzeiten festlegen - nicht bloßes Verbieten, sondern in Verbundenheit einen Umgang erlernen

Im Alter zwischen 7 und 14 Jahren erhalten viele Kinder heutzutage ihr erstes Smartphone .Wenn wir uns diese Entwicklungsphase anschauen, dann geht es nach Thye um folgende Aufgaben: Gewohnheitsbildung, Fähigkeitsbildung, die Kinder suchen in diesem Alter soziale Bindungen, gleichzeitig wollen sie sich selbst auch differenzieren, sie wollen selbstständig werden .Daher sei es wichtig, gemeinsam Regeln zum Umgang mit dem Handy zu erarbeiten und nicht ohne Erklärung von oben zu bestimmen. „In dem Alter sind die Kinder schon in der Lage, in einen gemeinsamen Prozess einzutreten und es fällt ihnen einfacher, Regeln einzuhalten, die sie selber mit aufgestellt haben .Diese Erfahrung ist besonders wichtig im zweiten Jahrsiebt.“ So könne man zum Beispiel eine medienfreie Zone definieren, eine Absprache für eine Zeit treffen, in der die Familie ganz bewusst keine Medien konsumiert .Konkretes Beispiel: Die Familie entscheidet gemeinsam, dass das Essen ein Moment ist, an dem keiner einen Blick aufs Smartphone werfen darf .Hierfür könne man ein kleines Bett bauen, in das alle zum Essen ihre Smartphones hineinlegen . Dann haben die Smartphones ihre Ruhe, und die Eltern und die Kinder können ungestört das gemeinsame Familienessen genießen.

Kinder in diesem Alter können die Konsequenzen ihres eigenen Handelns noch nicht voll abschätzen. Zum Beispiel wissen sie nicht, was es bedeutet, wenn sie ein Video von sich in einer bestimmten Pose in das Internet stellen oder auch nur einem guten Freund schicken, das auf einmal in der Klassen-App-Gruppe weitergeleitet wird und in ein breiteres Netz geht. „Das kann unangenehme Konsequenzen für die emotionale Entwicklung des Kindes haben, das sich gerade in dieser sehr verletzlichen Zeit der Vorpubertät befindet.“ Vor allem im zweiten Jahrsiebt ist die Aufgabe der Eltern daher, den Medienkonsum gut zu begleiten, den Kindern Unterstützung und Hilfestellung zu geben und sie in ihren Sorgen und Ängsten sowie auch in der Verletzung, die entstehen können zu begleiten. Nicht bloßes Verbieten, sondern in Verbundenheit einen Umgang erlernen. „Sprechen Sie mit Ihrem Kind: Was bedeutet es, wenn du dich in dieser oder jenen Pose fotografierst oder filmst und das jemandem schickst? Was kann das für Auswirkungen haben? Aber auch: Was bedeutet es, wenn dieses Foto oder jenes Video in vielen Jahren immer noch im Netz zu finden ist und ich mich verewigt habe in einer Form, die mir dann später nicht gefällt?“ 

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Wenn sich das Kind nur noch schwer selbst oder mit anderen Dingen beschäftigen kann, dürfen wir genauer hinschauen: Der Moment des Innehaltens und des Feststellens, dass es ein Problem gibt, ist der erste wichtige große Schritt.

Meist sind diese Problematiken, in denen die Medien einen sehr großen Raum des Familienlebens und auch der Entwicklung einnehmen, systemische Fragen. Das heißt, es gibt nicht nur einen Faktor, sondern verschiedene, die zusammengebracht und betrachtet werden. Der erste Tipp, den Miriam Thye geben würde: Sprechen Sie mit Freunden, mit Menschen, die Sie umgeben. Holen sie sich von vielen Personen Ratschläge, denn eine Umstellung von einem ganzen Familiensystem, von heute auf morgen medienfrei zu leben, ist eine riesengroße Aufgabe, das ist wie ein kalter Entzug. Häufig wird in der wissenschaftlichen Forschung in Bezug auf Medien und Mediennutzung von sucht-ähnlichem Verhalten gesprochen. Daher ist eine kompetente Unterstützung zu empfehlen, gerade wenn es beim Reduzieren von Bildschirmzeiten zu auffällig übersteigerten Reaktionen, gar Aggressionen und Wut seitens der Kinder kommt.

Auch die Eltern sollten laut der Psychologin ihr eigenes Handeln hinterfragen: Gucken wir zu viel? Bin ich nur so, dass ich mir zu viel Sorgen mache? Oder habe ich wirklich das Gefühl, da ist ein großes, tief greifendes Problem? Dann käme die Frage: Wer kann mir dabei gut helfen, wer kann mich darin gut unterstützen und mit wem können wir das dann lösen, zum Beispiel eine Umstellung des Medienkonsums in der gesamten Familie umzusetzen? Reale Erlebnisse in einer zunehmend medialen Welt zu schaffen, sind für eine gesunde Entwicklung von Kindern von entscheidender Bedeutung: „Durch den Einzug von Medien in unsere Kultur ist eine grundlegende Veränderung zu sehen. In dieser Welt wachsen unsere Kinder auf und ich halte es für wichtig, dem Ganzen ein Gegengewicht zu geben. Die Kinder dürfen Zeit vor dem Bildschirm verbringen, wenn dadurch die Zeit, in sie sich frei bewegen und entdecken können, nicht eingeschränkt wird.


Wir haben das gesamte Gespräch mit Miriam Thye, in dem sie weitere wertvolle Empfehlungen für Eltern gibt, gefilmt. Dieses kannst du, aufgeteilt für das 1. und das 2. Jahrsiebt, auf unserem YouTube-Kanal „Zeitschrift Vorhang Auf“ gerne anschauen.

Miriam Thye

Miriam Thye ist Psychologin mit langjähriger Erfahrung in der Diagnostik und Beratung von Familien. Sie forscht und lehrt wissenschaftlich an der Universität Witten/Herdecke zum Thema Lernen. Als Referentin und Coach bietet Frau Thye praxisorientierte Fachfortbildungen zum Thema „Medien und Kindsein“ an (https://medien-und-kindsein.jimdosite.com). Privat bildet sie sich in der Biographiearbeit und im Yoga-Unterrichten fort und ist Mutter eines 2 Jahre alten Sohnes.

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